„Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf“

31. Jan 2025

Zeitzeuge Alexander Müller berichtete über sein Leben in der DDR, über die Unfreiheit und über den „Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau“.

Über sein Leben in der DDR, über die Unfreiheit und über den „Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau“, in dem er insgesamt elf Monate seines Lebens verbrachte, hat Alexander Müller am Donnerstag auf Initiative der Fachschaft Geschichte als Zeitzeuge im Forum des Hariolf-Gymnasiums vor Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 12 berichtet.

Im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau sollten Jugendliche, die nicht dem Idealbild der SED-Funktionäre der DDR entsprachen und aus der Reihe tanzten, unter haftähnlichen Bedingungen und mit massiver Gewalt zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ umerzogen und auf Linie gebracht werden. Militärischer Drill, ideologische Schulung, Morgenappell, Antreten, Durchzählen, exzessiver Zwangssport, Zwangsakkordarbeit als Maschinenarbeiter, Gewalt und sexualisierte Gewalt waren an der Tagesordnung dieser Jugendhilfeeinrichtung.

Zwischen 1964 und dem Ende der DDR waren mehr als 4000 Jugendliche in dieser sogenannten Umerziehung. Im November 1989 wurde der Jugendwerkhof, der von meterhohen Mauern und Stacheldraht umzäunt war, vergitterte Fenster sowie Arrestdunkelzellen hatte und von Hunden überwacht wurde, geschlossen. Die repressive Heimerziehung mit Indoktrination hatte damit ein Ende.

1969 in Bad Schlema in ein systemkritisches, religiöses Elternhaus hinein geboren, war Müller 1980 im Rahmen der „staatlichen Fürsorge“ im Spezialkinderheim Mildenau, 1982 im Normalkinderheim Rodewisch, 1983 im Durchgangsheim Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) und anschließend im Jugendwerkhof Burg bei Magdeburg. 1984 wurde er zum ersten Mal in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen. Müller sprach von einer „Umgebung, die absolut menschenfeindlich ist“.

Danach kam er wieder zurück in den Jugendwerkhof Burg. 1985 folgte die zweite Einweisung nach Torgau. „Ich habe geheult wie ein Schlosshund“, berichtete er über die erste Nacht und von Suizidgedanken: „Ich war am Ende, bin erschöpft eingeschlafen.“ Dass sie ihn in der Anstalt nicht kleingekriegt haben, war für ihn das Allerwichtigste. Er sei voller Trotz, Wut und viel Arroganz gewesen. In Torgau habe es keine Freundschaften gegeben, höchstens vielleicht Bündnisse für den Moment, aber man konnte sich nicht darauf verlassen. „Kontaktaufnahme zu Jugendlichen anderen Geschlechts war verboten.“ Jungs durften die Mädchen nicht mal angucken, und umgekehrt.

Und dann die Zwangsarbeit und der unmenschliche Sport im Jugendwerkhof: Jeden Tag neben Läufen bis zu 500 Liegestützen, 500 Hockstrecksprünge, 500 Kniebeugen, 500 „Torgauer Dreier“ (eine Kombination aus Liegestützen, Kniebeugen und Hockstrecksprünge). „Wir sind abends ins Bett gefallen, waren völlig tot.“ Und: „Wie oft haben wir nackt Leibesvisitationen über uns ergehen lassen müssen!“ Man habe nur noch funktioniert, existiert. Eine falsche Antwort, wenn man nach den täglichen Nachrichten der DDR gefragt wurde, die man über einen Lautsprecher hören musste („Du musstest dir die Inhalte merken!“) , habe schon gereicht, um in Einzelarrest zu kommen: Minimum drei Tage! „Wenn die uns in Torgau hätten töten dürfen, hätten die das auch gemacht“, kritisierte Müller das System.

Im Anschluss an Torgau dann das Jugendwohnheim Plauen, wo er fast ein ganzes Jahr gebraucht hat, um seine Persönlichkeit wieder zu finden, so unselbstständig war er. So schaut die Jugend von Alexander Müller aus, der schon früh mit Lehrern und Erziehern in Konflikt geriet, bereits im Alter von 13 Jahren als „Konterrevolutionär“ galt und nach der achten Klasse zwangsausgeschult wurde, mit einer sogenannten Bildungssperre bis 27. Mit 17 bekam er seinen ersten Ausweis, mit der Auflage, dass er Plauen nicht weiter als 25 Kilometer verlassen darf.

Kein Wunder, dass er als Opfer der DDR-Heimerziehung – schätzungsweise circa 130.000 Kinder und Jugendliche waren in der DDR in Spezialkinderheimen - noch heute unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Seit 2010 ist Müller aktives Mitglied im 1996 gegründeten Verein „Initiativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof Torgau“, als solches geht er auch zu Vorträgen in Schulen. Der Werkhof ist heute eine Gedenkstätte. Gerne stellte sich Müller dem Gespräch und beantwortete die vielen Fragen der Schülerinnen und Schüler des Hariolf-Gymnasiums, denen er gleich zu Beginn der Veranstaltung mit Blick auf den Unrechtsstaat DDR und anderen totalitären Systemen einhämmerte: „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf. Seid gewarnt!“

Der unangepasste, renitente Alexander Müller, der von Selbstverwirklichung und Urlaub im Ausland träumte, Westsender hörte und auch die Westzeitschrift „Bravo“ las, wollte sich in seiner Jugend nicht vorschreiben lassen, was er zu denken habe, welche Musik er zu hören habe, was er anzuziehen habe. Müller weigerte sich, das blaue FDJ-Hemd anzuziehen, er trug lieber Glitzertücher aus dem Westen, die ihm seine Oma mitbrachte. Die FDJ (Freie Deutsche Jugend) war der kommunistische Jugendverband der DDR.

1982 sollte er einen Aufsatz zum Thema Annexion schreiben. Es war das Jahr, als die britischen Falklandinseln von Argentinien besetzt und von Großbritannien zurückerobert wurden, es war aber auch die Zeit, als die Sowjetunion von 1979 bis 1989 mit militärischen Mitteln Afghanistan besetzt hatte. Die Staatsbürgerkundelehrerin schrieb an die Tafel: „Das Beispiel ist frei wählbar.“ Müller entschied sich für Afghanistan, was ihm zum Verhängnis wurde, denn am selben Tag kam die Staatssicherheit an die Schule.

Nach seiner Entlassung aus dem Heim engagierte sich Müller in der Bürgerrechtsbewegung der DDR. 1987 spielte er mit dem Gedanken, die DDR zu verlassen und stellte einen Ausreiseantrag. Sein bester Freund verstand dieses Ansinnen, gab ihm aber zu Bedenken: „Einen Schweinestall mistet man von innen aus.“ Müller zog seinen Ausreiseantrag zurück.

Am 7. Oktober 1989 war Müller mittendrin bei einer Demonstration in Plauen mit über 20.000 Teilnehmern, der ersten Großdemonstration auf dem Gelände der ehemaligen DDR, und sah sich aufmarschierenden Soldaten in Uniform und mit Stahlhelm und Kalaschnikow gegenüber. Gott sei Dank, habe es zu einer friedlichen Revolution ohne Tote geführt, bilanzierte Müller. Die DDR habe erst ziemlich spät begriffen, dass es wichtig sei, Reformen einzuleiten. „Kämpft um eure Demokratie! Das ist sehr, sehr wichtig“, appellierte Müller an die Schüler: „Und sagt das auch euren Eltern!“


Text: Josef Schneider, Fotos: Tobias Bartsch

Finanziert durch Mittel der

Mit Unterstützung des Koordinierenden Zeitzeugenbüros und der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau

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